Vorspann

Veröffentlicht auf von Jacqueline

Es ist einer dieser schönen sonnigen Tage, die typisch für den Monat Mai sind. Ein paar Vögel zwitschern fröhlich und eine leichte Brise weht Blumen und Blätter im Wind hin und her. Die Sonne scheint durch die durchsichtigen grünen Vorhänge. Und durch den ins Zimmer strömenden Wind, fängt das vor dem Fenster hängende Windspiel an, Töne zu erzeugen. Die bunten Glassteine und Murmeln, ergeben zusammen die Form eines Seepferdchens, ihr Lieblingstier. Ansonsten ist es still im Haus. Die frischen Blumen auf der Fensterbank verströmen einen angenehmen Duft, der den anderen Geruch, der seit Tagen in diesem Zimmer in der Luft hängt, nur schwer überdecken kann. Ein Duft, der mir auch nach all dem hier immer wieder in die Nase steigt. Irgendwo im Haus summt eine Fliege und knallt immer wieder gegen die Fensterscheibe. Sonst ist nichts weiter zu hören. Nur der Wind, der in den Vorhängen spielt, die leisen Töne des Seepferdchens und das laute, unregelmäßige und rasselnde Atmen. Das Atmen, das sich in den letzten Wochen und insbesondere in den letzten Tagen immer mehr verändert und verschlimmert hat. Immer hektischer und hechelnder wurde. Nach Luft förmlich ringend. Das Atmen, das ich höre, selbst wenn ich nicht anwesend bin. Dieses Geräusch was sich für immer in mein Gedächtnis gebrannt hat. Ansonsten ist es ruhig und die Zeit scheint still zu stehen. Wir warten auf den erlösenden Moment und sind doch noch nicht bereit dafür. Er ist zum Greifen nahe und doch noch so weit weg. Doch dann geht es los. Das Atmen wird unregelmäßiger. Die Atempausen werden länger und die Anzahl der Atemzüge weniger. Unsere Anspannung steigt .Wir versammeln uns um das Bett. Streicheln sie, sprechen ihr gut zu. Immer wieder kämpft sie, fängt nach einer langen Atempause erneut wieder an zu atmen. Wieder und wieder. Sie kämpft. Kämpft um ihr Leben. Kämpft um ein erfülltes Leben. Ein Leben mit Höhen und Tiefen. Ein Leben für das sie die letzten anderthalb Jahre so viel auf sich genommen hat. So viel gekämpft hat und doch wusste sie, dass es genauso enden würde. Und dann ist es soweit. Eine Atempause, die uns besonders lang vorkommt, obwohl ich jetzt nicht mehr genau sagen kann wie lange sie wirklich war. Eine Atempause von vielleicht 15-20 Sekunden. Doch sie fängt einfach nicht wieder an zu atmen. Ich habe das Gefühl mein Herz bleibt stehen. Ich halte unwillkürlich die Luft an, das Herz schlägt mir bis zum Hals, meine Hände zittern, ich glaube mich erinnern zu können, dass ich am ganzen Körper Gänsehaut hatte. Ein Schauer läuft mir den Rücken herunter. Mein Blick ist fixiert auf ihre fest geschlossenen Augen. Wie als wenn ich warten und hoffen würde, sie würden jeden Augenblick einfach wieder auf gehen. Doch es passiert nichts dergleichen, gar nichts. Sie hat einfach aufgehört zu atmen. Zweimal ist noch ein leichtes Ausatmen hörbar, ähnlich wie ein Seufzer. Ein Seufzer den man mit dem Abfallen sämtlicher Anspannungen, Erwartungen und Ängste vergleichen kann. Ein Seufzer, dass nun endlich alles vorbei ist und sie nicht mehr leiden muss. Eine einzelne Träne kullert aus ihrem rechten Auge. Eine Träne die wohl ihre Trauer darüber symbolisiert, uns alleine lassen zu müssen. Eine einzelne Träne, die ihre Trauer ausdrückt, den Kampf verloren zu haben. Den Kampf, den sie mit allen Mitteln angegangen war. Den sie sich vorgenommen hatte unter allen Umständen zu gewinnen. Und dann kommt gar nichts mehr. Der Puls, deutlich am Hals sichtbar, schlägt noch knapp zwei Minuten bevor er langsamer wird, bis das Herz aufgrund von Sauerstoffmangel komplett aufhört zu schlagen. Ob es wirklich zwei Minuten waren kann ich nicht mehr genau sagen. In diesem Moment ist die Welt um mich herum stehen geblieben. Ich höre schemenhaft das Windspiel und vereinzelt ein paar Vögel von draußen. Und dann ist es ruhig. Ganz ruhig. Ein unbeschreibliches Gefühl. Ein Gefühl das gleichzeitig Angst und Freude in mir auslöst. Angst was jetzt wohl kommt, wie ich damit umgehe, es verkrafte. Und Freude darüber, sie nicht mehr leiden zu sehen und zu wissen, dass sie an einem besseren Ort ist. Einem Ort, an dem sie keine Schmerzen hat. Ein Ort an dem es ihr besser gehen möge. Welches Gefühl in dem Moment überwiegt kann ich nicht mehr sagen, ich weiß nur, dass meine darauffolgenden Tränen die gesamte Anspannung der letzten Wochen und Monate weggespült hat. Der Moment auf den wir wochenlang gewartet und uns monatelang vorbereitet haben. Der Moment der uns vor anderthalb Jahren prophezeit wurde und uns dennoch den Boden unter den Füßen weggerissen hat. Dieser Moment vor dem ich mich tagelang gefürchtet hatte und den ich dennoch miterleben durfte. Genau dieser Moment ist gerade vor wenigen Minuten passiert. Ich kann es noch nicht realisieren, aber meine geliebte Mama ist jetzt tot.

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